Erla S.
von Rolf-Peter K.
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Wir treffen uns im zweiten Monat der Corona-Pandemie, also noch während der allgemein geltenden Hygiene und Abstandsregelungen in ihrem Haus in Wennenden (Blaubeuren- Seißen) zum Kaffee, ohne Schutzmaske und ohne 1,5 m Abstand. Erla S. ist eine gebildete, ruhige, bedächtige und ausgeglichene Frau von 78 Jahren und hat bis heute ein bewegtes und aktives Leben gelebt.
R.: Liebe Erla, wo bist du aufgewachsen?
E.: Ich bin in Hessen aufgewachsen, in Oberursel.
R.: Wie erinnerst Du Euer Familienleben?
E.: Ich habe es als überwiegend harmonisch erlebt. Es waren allerdings beengte Verhältnisse. Wir sind nach dem Krieg aus der Nähe von Neustrelitz zu meiner Großmutter nach Oberursel gekommen und haben in einer Dreizimmerwohnung gelebt, meine Eltern, meine Schwester und ich, meine Großmutter und der Bruder meiner Mutter.
R.: Neustrelitz, wo ist das?
E.: Das liegt heute in Mecklenburg-Vorpommern.
R.: Kannst du mir ganz kurz deinen Bildungs- und beruflichen Werdegang skizzieren?
E.: Ich bin in Oberursel eingeschult worden, 1947. Nach der 6. Mittelschulklasse nach Bad Homburg gewechselt und dort Abitur gemacht.
R.: Gab es einen Grund, weshalb du von der Mittelschule auf ́s Gymnasium wechseltest?
E.: Es war 1956, als die Lufthansa wieder an den Start ging. Da wollte ich unbedingt
Stewardess werden. Dafür brauchte man Abitur.
E.: Dann haben sich meine Berufswünsche geändert.
R.: Wie kam es zu dieser Änderung?
E.: Im Laufe der Zeit änderten sich meine Berufswünsche. Ich habe dann ein Medizinstudium in Marburg mit zwei Klassenkameradinnen begonnen.
R.: Wurdest du in diesem Berufswunsch ermuntert, unterstützt von jemandem oder gar gefördert von irgendjemandem?
E.: Eigentlich nicht. Es hat niemand Widerspruch eingelegt, es hat mich auch niemand gefördert.
R.: Bis auf die finanzielle Unterstützung durch deine Eltern?
E.: Das natürlich.
R.: Wie ging ́s dann weiter?
E.: Nach dem Vorphysikum in Marburg ging ich nach Frankfurt und habe dort das Studium abgeschlossen und promoviert.
R.: Du bist Kinderärztin geworden?
E.: Ja, ich bin Kinderärztin geworden.
R.: War diese Facharztausbildung Zufall oder gab es einen bestimmten Grund dafür?
E.: Mein Mann war auch Kinderarzt, und wir wollten später in einer Gemeinschaftspraxis arbeiten.
R.: Ich kann mich an einen Zeitungsartikel erinnern, in dem du dein Comming Out
hinsichtlich des Wechsels deiner sexuellen Orientierung buchstäblich öffentlich
gemacht hast. Wie kam es dazu?
E.: Das war eine Aktion vom Frauentreff. Die Diskriminierung von Schwulen und Lesben ist ja inzwischen wesentlich geringer geworden als früher und trotzdem sind homosexuelle Menschen in der Öffentlichkeit selten zu sehen. Und deswegen haben wir diese Aktion gemacht, dass Lesben sichtbar werden sollen. Ich habe mich dazu bereit erklärt, mit einer anderen zusammen das zu machen.
R.: Da musstet ihr ja euern ganzen Mut zusammennehmen.
E.: Das stimmt. Aber den größten Mut brauchte ich, als ich mich scheiden ließ. Ich wollte lesbisch leben.
R.: Wie ging denn deine Familie damit um? Du hattest ja Kinder.
E.: Ich habe Kinder. Das war nicht so einfach. Ich habe ihnen das ja vorhergesagt. Das waren tränenreiche Gespräche und es war nicht so einfach, besonders für meinen Sohn. Aber im Laufe der Zeit hat sich das wieder geklärt. Es war nie ein zerrüttetes Verhältnis deswegen. und wir haben heute ein sehr gutes Verhältnis miteinander. Sie haben das im Lauf der Zeit besser akzeptiert als am Anfang und haben auch zu meiner Partnerin ein sehr gutes Verhältnis.
R.: Wann hast Du denn gemerkt, dass du lesbisch bist?
E.: Das habe ich schon sehr früh als Jugendliche gemerkt. Ich habe aber gehofft, dass es vorbeigeht. Ich wollte auch Kinder haben.
R.: Dass es vorbei geht wie eine Grippe z.B.
E.: Ja, so ungefähr. Ist aber nicht so gewesen, und deshalb wollte ich mein Leben ändern., zumal meine Kinder die Schule fast beendet hatten. Auslöser war ein Fahrradunfall, weshalb ich mit einer Gehirnerschütterung in die Klinik kam. In dieser Zeit las ich das Buch der lesbischen Ärztin, Charlotte Wolf, mit dem Titel: „Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit“. Das schwelte ja schon in mir, dass ich mein Leben anders gestalten wollte. Nach dieser Lektüre habe ich mich entschieden: So, jetzt mach ich ́s.
R.: Wie lange bist du nun schon mit deiner Partnerin zusammen?
E.: Seit 31 Jahren.
R.: Du bist seit wann im Ruhestand?
E.: Seit Ende 2005 bzw. Anfang 2006. Also ich habe mit 64 aufgehört, weil der Zeitpunkt für die Übergabe der Praxis günstig war.
R.: Also, Ruhestand, wobei von Ruhe ja keine Rede sein kann. Wie sieht heute dein Alltag aus?
E.: Ja, im Moment zu Corona-Zeiten ist es ja deutlich ruhiger geworden, wobei ich jetzt sagen muss mit all den digitalen Angeboten und Video-Konferenzen, dass es fast schon ein Bisschen lästig ist, dass so viel möglich ist und man ständig an irgendeiner ZOOM-Konferenz teilnehmen könnte, was ich aber nicht mache, weil hauptsächlich meine Technik nicht gut ist hier auf dem Lande und ich immer wieder rausgeschmissen werde.
R.: Ich wollte es zuerst mal einfacher. Was machst du zum Beispiel, um dich fit zu halten, du machst auf mich einen sehr fitten Eindruck, und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben?
E.: Eine Zeitlang bin ich mal ins Fitnessstudio gegangen, zur Zeit nicht. Wir gehen viel spazieren, fahren mit dem Rad, machen einmal in der Woche Chi Gong, tanzen, im Sommer gehen wir schwimmen, aber nicht regelmäßig.
R.: Und ihr meditiert regelmäßig.
E.: Ja, seit ich hier in der Beginen-Gemeinschaft lebe meditieren wir morgens. Seit
November machen wir das jeden Morgen 20 Minuten regelmäßig.
R.: Und in deiner Freizeit, die man wirklich so nennen kann, also in Zeiten der Muße und der Muse?
E.: Da lese ich, mache Reisen, gehe ins Theater, ins Kino, gucke fern, treffe Freundinnen.
R.: Nun zu eurem spektakulären Projekt, mit der Beginen-Gemeinschaft hast du schon ein Stichwort gegeben. Das solltest du unbedingt erläutern.
E.: Ja, ich bin da etwa dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kind. Ursa, unsere
Mitbewohnerin im alten Haus, mit der zusammen wir das große Gelände erworben haben, suchte mit einer Partnerin schon länger nach einer Möglichkeit für ein Projekt, wie sie im Alter ihr Leben gestalten und wie sie in einer Frauengemeinschaft mit Selbstversorgung usw. leben wollte. Nach langer erfolgloser Suche, entschlossen sie sich, das Projekt hier auf unserem großen Gelände zu realisieren. Wir hier im alten Haus waren zunächst nur Nachbarinnen des Projekts. Dann sind wir mit eingestiegen. Das Projekt besteht im Augenblich aus vier Häusern, in denen jeweils eine Frau lebt. Wir im alten Haus sind zu dritt, d.h., wir sind jetzt eine Gemeinschaft von sieben Frauen, die gemeinsam hier leben. Wir haben keine feste Struktur, außer dieser Meditation und dass wir uns zu unregelmäßigen Zeiten treffen, um organisatorische Dinge zu besprechen. Aber dann machen wir auch Dinge gemeinsam, also wir essen oft gemeinsam, wir kochen gemeinsam, wir machen Ausflüge gemeinsam.
R.: Für mich ist besonders beeindruckend, dass die vier Häuser neu gebaut sind und dass ihr ein tolles Gelände habt, das auch wirklich wunderschön angelegt ist.
E.: Ja, das war nicht immer so.
R.: Das ist ja eine unglaubliche finanzielle Belastung. Wie konntet ihr das durchziehen?
E.: Das konnten wir nur, weil eine der Initiatorinnen vermögend war und ein großes Darlehen zur Verfügung gestellt hat, weitestgehend zinslos, das wir dann im Laufe der nächsten 20 - 30 Jahre abbezahlen. Im Übrigen muss jede Frau 50000 € einbringen. Eine allerdings ist gesponsert, die hat es nicht mit einbringen müssen. Diese 50000 € bekommt man beim Auszug wieder oder, wenn man stirbt, bekommen es die Erben. Und alles Weitere wird sich durch die Mieten finanziert, die die Bewohnerinnen bezahlen müssen.
R.: Verrätst Du, wie hoch die sind?
E.: Das sind gegenwärtig 600 €. Wahrscheinlich können wir ́s noch drücken.
R.: Wie groß sind denn die Häuser?
E.: Zwei Häuser haben eine Wohnfläche von 45 Quadratmeter und die zwei äußeren
haben einen kleinen Anbau und daher etwa 55 Quadratmeter.
R.: Erla, was wünscht du dir für die Zukunft des Projektes und für dich persönlich?
E.: Ich wünsche mir, dass es eventuell so weitergeht, dass die Gemeinschaft sich gut
verträgt, was bisher der Fall war, also es gab keine Krisen, und wir gucken halt, wie jetzt, wenn eine Frau gestorben ist und wir eine neue Bewohnerin suchen, dass die Chemie zwischen allen stimmt. Das ist eigentlich das einzige Kriterium, und dass sie die nötigen Finanzen hat, um die Einlage zu bezahlen.
R.: Die Beginen, die es ja schon im Mittelalter gab, waren bekannt für ihre Wohltätigkeit. Gilt das auch für euch? Wenn ja, worin besteht sie?
E.: Im Sinne der mittelalterlichen Beginen, Krankenpflege, Speisung von Armen usw. sind wir momentan nicht wohltätig. Aber in unserem unmittelbaren Umfeld achten wir schon auf bedürftige Mitmenschen. Einer Mitfrau wurde zum Beispiel die Einlage von 50000 € erlassen, da sie sonst nicht hätte einziehen können.
R.: Wie du sagst, seid ihr keine Gemeinschaft, die zum Beispiel im Alter Pflege übernehmen würde. Wenn das der Fall wäre bei einer Bewohnerin, dann müsste sie eben in ein Pflegeheim?
E.: Oder man müsste eine ambulante Pflege organisieren. Also wir sind natürlich bereit, wenn jemand kurzfristig erkrankt ist, pflegebedürftig ist, dass wir das machen, aber wenn es absehbar ist, dass das länger dauert, brauchen wir professionelle Hilfe.
R.: Für dich persönlich, was wünscht du dir für dich persönlich?
E.: Dass mein Leben interessant bleibt. Durch die Frauen gibt es immer wieder
Anregungen. Wir sprechen über interessante Filme, die wir gesehen, oder Bücher, die wir gelesen haben. Und dann ergeben sich anregende Gespräche. Das wünsch ich mir, dass das so weitergeht. Und dadurch, dass die Frauen ganz unterschiedlich sind und unterschiedliche Interessen haben, kommen ganz unterschiedliche Impulse in die Gruppe. Und das macht schon Spaß miteinander.
R.: Das heißt also, dass dein Leben an- und aufregend bleibt und dass du gesund bleibst. Gibt es für dich so was wie ein Lebensmotto eine rote Linie sozusagen, die sich im Rückblick auf dein Leben aus deinen Grundüberzeugungen entwickelt hat?
E.: Ich muss dazu sagen, dass ich in einem nichtchristlichen Haus aufgewachsen bin, meine beiden Eltern waren nicht in der Kirche. Ich habe später freiwillig am Religionsunterricht teilgenommen, bin dann vorübergehend in der Kirche gewesen, aber wieder ausgetreten. Damals habe ich das aus Überzeugung gemacht. Aber inzwischen hat sich das wieder geändert. Also, diesbezüglich bin ich eine Agnostikerin. Ich habe nie so etwas wie Visionen gehabt, die ich unbedingt verwirklichen wollte. Ich habe immer die Gelegenheiten, die sich mir boten, am Schopf gepackt und die realisiert.
R.: Und die goldene Regel eingehalten?
E.: Das auch, ja, ich hoffe es.
R.: Euer Projekt ist ja im Grunde auch ein ehrenamtliches Projekt, ihr organisiert das alles ehrenamtlich zusammen. Gibt es sonst noch irgendwelche ehrenamtliche Aktivitäten von dir?
E.: Ich bin noch im am Ärztinnenbund aktiv. Da haben wir eine Untergruppe, die nennt sich 60+. Da machen wir zweimal im Jahr eine Tagung, die einen wissenschaftlichen Teil und einen kulturellen Teil hat. Wir haben auch noch ein Vorprogramm zur Körperertüchtigung. Einmal treffen wir uns in Berlin. Und noch einmal in einer anderen Stadt. Nach der Wende sind wir ganz oft in ostdeutsche Städte gereist, um ostdeutsche Kolleginnen für den Ärztinnenbund zu gewinnen. Das ist uns aber nicht gelungen.
R.: Was glaubst du, woran das gelegen hat?
E.: Ich glaube, das war so ein großer Umbruch, das ganze System ist ja geändert worden und damit hatten die Kolleginnen so viel zu tun, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen, und außerdem glaube ich, dass sie nicht bereit waren, sich parteilich und vereinsmäßig zu binden, die wollten einfach frei sein.
R.: Deine ehrenamtlichen Tätigkeiten sind damit nicht erschöpft.
E.: Ich engagiere mich noch im Frauentreff in Ulm. Dort bin ich seit meiner Scheidung und seit vielen Jahren. Ich wollte dort Frauen liebende Frauen kennen lernen. Es geht heute um feministische Aspekte, z.B. die Gleichstellung- und -berechtigung der Frauen und die Antidiskriminierung homosexueller Menschen. Bei ViLE bin ich Schatzmeisterin und für das Mitmachprojekt verantwortlich. Im ZAWiW bin ich bei Assist und im AK Frauengeschichte. Seit 2015 gaben wir, meine Partnerin und ich, ehrenamtlich Deutschunterricht für Flüchtlinge, seit den offiziellen Kursen betreuen wir weite 1 1⁄2 Stunden zweimal die Woche andere Ausländerinnen.
R.: Wenn du heute jungen Leuten einen Rat für die Gestaltung ihres eigenen und gemeinsamen Lebens geben wolltest, wie sähe der aus?
E.: Dass sie das tun sollten, was sie tun möchten, damit sie ́s mit Herzblut machen und damit ́s ihnen Spaß macht.
R.: Ihr habt an der Tür zu dem gemeinsamen Gelände ein Schild, darauf steht: „Hier betreten Sie Mutterland“.
E.: Das stimmt. Das ist eine Aussage, die ist aus Amerika gekommen ist. Das hieß da „Her Land“ und das hat mit der neuen Frauenbewegung in den 70er Jahren zu tun.
R.: Ihr seid also erklärte Feministinnen?
E.: Ja, in dem Sinne, dass wir für Gendergerechtigkeit eintreten.
R.: Liebe Erla. Ich bedanke mich für das Gespräch, deine Offenheit und dein Vertrauen.