Ingrid O.
by Frank S.
Ingrid ist 1937 in Berlin-Dahlem geboren. Sie verfügt über eine doppelte Staatsbürgerschaft (Deutschland und Schweiz) und lebt seit 1968 in Bensheim. Sie hat eine Tochter, ihr Mann ist vor einigen Jahren verstorben.
Eigene Kindheit
Ingrid hat ihre Kindheit trotz des Krieges und der Bombenangriffe als relativ behütet empfunden: „Mein Vater war nicht im Krieg und abends immer zuhause. Daher war es – abgesehen von den äußeren Bedingungen – eine normale Kindheit. Ich hatte meine Familie um mich“. Sie hat einen fünf Jahre jüngeren Bruder, die Großeltern haben teilweise bei ihnen gelebt und zu den Geschwistern der Eltern gab es ebenfalls enge Bindungen: „Es war immer ein Haufen Familie da, der eng zusammengehalten hat“.
Nach den großen Bombenangriffen und der Geburt des Bruders ist die Familie von Berlin auf Umwegen ins Rheinland nach Bad Münstereifel, zur Familie ihrer Mutter gezogen. Hier wohnte Ingrids Familie in einem Haus mit den Großeltern sowie einer Tante und einem Onkel sowie einem Cousin: „Wir waren immer mindestens acht Menschen am Tisch. Familie war alles, deshalb haben wir nicht so sehr nach außen gelebt. Das bot uns Sicherheit. Geldsorgen hatten wir keine, aber es war schwierig, das tägliche Essen auf dem Tisch zu haben, weil nichts zu bekommen war.“
Vom Teenager bis zur Rente
Nach dem ‚Einjährigen‘ hat Ingrid eine Ausbildung in der Textilbranche absolviert und anschließend eine Fachhochschule besucht, die sie mit dem Titel Ingenieurin abschloss. Hier war sie in den ersten Semestern die einzige Frau: „Erst im letzten Semester kamen einige Frauen aus dem Osten an die FH. In meinem Semester waren viele Kriegsheimkehrer. Männer, die wesentlich älter waren als ich“.
Nach dem Studium wollte Ingrid in den frühen 60 er-Jahren ins Ausland: „Da ich mich für nicht sehr sprachbegabt hielt, habe ich mich für die Deutschschweiz entschieden: „Ich habe die Anzeige einer Firma aus der Textilindustrie gesehen und dachte, von da aus schaue ich weiter. Eine Arbeitsgenehmigung hatte ich schnell, da die Schweiz in der Textilindustrie damals niemanden ausgebildet hatte. Hier war ich in der textilen Forschung tätig“.
Im Zusammenhang eines Treffens mit der ETH hat sie ihren Mann kennengelernt, Als ihre gemeinsame Tochter vier Jahre alt war, erhielt 1968 er einen Ruf als Professor nach Darmstadt: „Nachdem wir hier ankamen, habe ich nicht mehr gearbeitet und hätte hier nichts gefunden. Ich hatte Möglichkeiten genug, was anderes zu machen, was mir Spaß gemacht hat“.
Gezogen sind sie nach Bensheim, wo sie bis zum heutigen Tag lebt: „Wegen der damaligen Studentenunruhen haben wir uns bewusst eine Wohnung außerhalb Darmstadt gesucht, um uns davon fernzuhalten“. Ingrid führte in Bensheim ein komfortables Leben: „Ich habe schnell angefangen, Kontakte zu knüpfen, bin in Sportvereine eingetragen und regelmäßig geritten“.
Einen Mittelpunkt ihres Lebens bildeten Reisen, zumal dies mit der Rolle ihres Manns als Professor im Gegensatz zu seiner früheren Position gut vereinbar war: „Wir haben uns dann einen VW-Bus gekauft und sind durch ganz Europa gefahren. Anschließend sind wir viel in Kanada gewesen, haben dort ein Cottage gekauft. Mein Mann hatte früher fünf Jahre in den USA gelebt“.
Ingrids Rückblick auf ihr bisheriges langes Leben fällt sehr positiv aus: „Ich habe Glück gehabt, für mich ist es gut gelaufen. Es ging immer alles zum Guten aus, wofür sich meine Familie entschieden hat. Und ich bin heute in der Lage, noch alles mitzubekommen. Auf dem sozialen Sektor habe ich mich nicht sehr engagiert, da ich mit mir beschäftigt war. Politik lief auch eher an mir vorbei“.
Stellung älterer Menschen in ihrer Jugend
Für Ingrid war ihre Schwiegermutter ein besonderer Mensch: „Sie ist in jungen Jahren aus St. Gallen nach Amerika ausgewandert, war sehr selbständig und hat dort viele Jahre gearbeitet. Bei aller Achtung vor ihr waren wir immer auf Augenhöhe. Und auch sie hat mich auf Augenhöhe behandelt. Wir konnten über viele Probleme reden, ohne dass sie jemals ins „Belehrende“ geraten ist. Alte Menschen wurden in meiner eigenen Familie mit Respekt behandelt, aber am Esstisch fanden auch oft konträre Diskussionen statt. Das Ende dieser Gespräche war nicht immer einstimmig. Über meine Ausbildung habe ich auch selbst entschieden. Die Alten haben ihre Erfahrung nicht ausgespielt. Die haben aufgesogen, war wir jüngeren mitgebracht haben“.
Ihre Mutter lebte selbständig in ihrem eigenen Haus bis zu ihrem Ableben. Ingrid hatte eine Pflegerin für sie engagiert, sie selbst fuhr ab und zu ihrer Mutter. Ihr eigener Mann war in den letzten Jahren ein Pflegefall und wurde von Ingrid bis zu seinem Tod im Jahr 2015 gepflegt.
Denken über Alter – früher und heute
„Vom finanziellen her haben wir geguckt, dass wir unseren Status halten. Dass wir im Gleichgewicht sind, damit uns im Alter nicht viel passieren kann. Das Abrutschen im Alter, hatten wir daher nie, wir sind immer gut rausgekommen. Ich würde schon sagen, ich lebe so, wie ich es mir früher vorgestellt habe. Und unsere Interessen sind über all die Jahre hinweg eigentlich gleichgeblieben, früher genauso wie im Ruhestand“.
Ihre sozialen Beziehungen haben sich die letzten Jahre verändert. „Mit meinen sozialen Beziehungen bin ich eigentlich zufrieden, aber die alten Freundinnen sterben weg. Mein unmittelbarer Freundeskreis ist gestorben, das vermisse ich schon, sich nicht mehr austauschen zu können. In der Schweiz, in der ich eine Wohnung besitze, habe ich die Kontakte intensiviert. Jeder kennt jeden, wenn ich hinkomme. Ich fühle mich nicht einsam“.
Ingrid fährt bis heute regelmäßig mit dem eigenen Auto in die Schweiz und hat sich einen Hund angeschafft, den sie schon immer haben wollte. Ein normaler Tag sieht für Ingrid so aus: „Ich stehe zwischen 7 und 8 Uhr auf. Und das erste ist morgens immer, mit dem Hund für eine dreiviertel Stunde rauszugehen. Das hält mich in der Spur, danach geht es mir besser“. Danach frühstückt Ingrid, liest die Zeitung, macht ihren Haushalt, strickt, hält ihre Papiere in Ordnung, kocht und kauft ein. Abends schaut Ingrid anspruchsvolle Filme im Fernsehen.
Mediennutzung
Ingrid nutzt viele Medien: Fernsehen (hier vor allem 3 Sat und Arte), eine Tageszeitung, eine Sonntagszeitung, eine Hundezeitung und eine Kulturzeitschrift: „Diese Zeitungen lese ich intensiv. Mit Computer mache ich gar nichts. Ich habe zwar ein Smartphone, aber nutze außer WhatsApp keine Apps. Meine Mailadresse nutze ich nicht. Einige machen mit digitalen Medien mehr. Ich habe vor einigen Jahren einen Computer-Kurs gemacht. Aber das ist nichts
Grundsätzlich bildet Lesen einen wichtigen Teil ihres Lebens, es ist eine große Leidenschaft von Ingrid: „Lesen ist immer mein Ding gewesen, schon von zu Hause aus. Wenn ich Stubenarrest hatte, habe ich angefangen zu lesen. Heute lese ich neben den Zeitungen mindestens drei bis vier Stunden: Sachbücher, Politik, Biografien, Geschichtsbücher. Romane liest sie eher selten.
Rolle der Rentner in der Gesellschaft
„Ich betrachte mich als alte Person, aber nicht als Rentnerin. Vielleicht, weil ich schon so viele Jahre nicht berufstätig bin“.
An alten Menschen stört es sie, dass sie immer die gleichen alten „Erfolgsgeschichten“ erzählen. Und nicht zuhören können, um so am tagesaktuellem Geschehen teilzunehmen. Wie die Gesellschaft über alte Menschen denkt, findet sie ebenfalls nicht gut: „Hier werden Kästchen geformt. Dass einige alte Menschen sich geistig vernachlässigen und andere nicht in Würde alt werden können.“ Sie nimmt zudem wahr, dass viele Menschen den alten Menschen über den Mund fahren, während andere mehr wissen wollen über ihr Leben und nachfragen, wie es früher war.
Ingrids Botschaft an jüngere Menschen lautet daher: „Denkt ausgewogen und nicht in Extremen, wenn ihr über Alte sprecht.